Toshna

Darf ich mich Ihnen vorstellen? Ich heiße Toshna und bin eine Schrifttype, naja eher ein Schrift-­Font und ein echtes Leipziger Mädchen. Ich bin das, was der Fachmann als Renaissance-Antiqua bezeichnet und habe daher einen riesigen Anhang. Nun, man kann sich seine Verwandtschaft nicht aussuchen, aber ein wenig Eitelkeit dürfen Sie mir gerne gewähren.

Trotz dieses langen Stammbaums bin ich doch ein Kind meiner Zeit. Mit »meiner Zeit« meine ich die 1950er Jahre. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sämtliche gebrochen­en Bekannte, also Fraktur, Schwabacher und die Gotisch in Ungnade gefallen. Was lag für einen beflissenen Grafiker näher, als eine klassische Antiqua? Gut, einige von Ihnen werden jetzt einwenden, daß eine Antiqua, egal welcher Art sie auch sei, eben zum Grundprogramm, zum ordentlichen Rüstzeug eines jeden Gestalters gehört. Sie haben Recht. Nach den Kriegsjahren gab es einen großen Bedarf an neuen Schrifttypen. Neue Typen mußten her und so gingen sie in West wie Ost, den politischen Umständen jener Zeit geschuldet, getrennt ans Werk.

Warum erzähle ich das? Nun, ich versuche eine Überleitung zu meinen Vater zu bauen, der eigentlich gar kein Schriftgestalter im engeren Sinne war. Oh ja, mit Schrift konnte der umgehen, aber er war ein Meister des Pinsels und der feinen Feder, mehr Zeichner als Kalligraph – doch immer bodenständig. Von wem ich rede? Von Hellmuth Tschört­ner. Gut, der Name wird Ihnen vielleicht nicht viel sagen. Namen sind Schall und Rauch.

Wenn Sie Bücher des Insel Verlages aus den 50er, 60er oder 70er Jahren besitzen, schauen Sie sich bitte die Einbande und Schutzumschläge genauer an. Sie haben ganz bestimmt einen von ihm gestalteten darunter. Vielleicht sogar ein Buch mit seiner typ­ischen kursiven Titelschrift. Nun, er schuf die Erstgeborene, die Tschörtner-Antiqua und in gewisser Weise auch mich, denn ich bin meiner Schwester im Wesen sehr nahe. Es heißt doch oft, die Erstgeborenen hätten ein Privileg, aber das ist wohl nur bei alten Adelsgeschlechtern so.

Im Jahr 1955 wurde die Tschörtner-Antiqua, erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Die Garnituren reichten von 6 bis 48 Punkt, wobei die Grade für den Werkdruck von 6 bis 12 Punkt als Linotypematrizen ausgeführt waren, bzw. diesen in der Handsatzversion entsprachen. Linotypematrizen sind kleine Messinggußformen die je ein oder zwei Buch­stabenbilder enthalten. Sie fallen in einer Setzmaschine, z.B. der »Linotype«, in eine Zeile und wenn die Zeile fertig gesetzt ist, wird heißes Blei hinein gegossen. Da­nach werden diese Matrizen wieder in ihre Magazine zurück transportiert, die Druck­zeile ist fertig und die nächsten Matrizen fallen wieder um die nächste Zeile zu setzen. Alles mechanisch und doch automatisch. Wenn Sie so eine Maschine einmal sehen möchten, sollten Sie in Leipzig im Museum für Druckkunst vorbeischauen. Mit ein wenig Glück bekommen Sie eine reale Demonstration. Jetzt habe ich mich wieder verzettelt. Wo waren wir? Ach ja, wir waren bei den Graden der Tschörtner-Antiqua. Erst ab 14 Punkt war sie wieder authentisch. Die Gestalt der kleineren Grade mußte den eher zweck­mäßigen Notwendigkeiten der Linotypematrizen angepaßt werden. Vielen Schrift­en bekam diese Roßkur sogar gut, wurden sie doch leserlicher in den kleinen Größen. Meine Schwester gehörte aber zu jenen Typen, bei denen diese Kur nicht zur Genesung führte, um es einmal sehr vorsichtig auszudrücken. Merkwürdig nur, andere Schriften aus selben Hause wurden wesentlich besser behandelt, aber das ist Ver­gan­genheit.

Große Erfolge brauchen große Typen – so kann ich augenzwinkernd die Ehre meiner Schwester retten. Wenn es um Staatstragendes ging, um herausragende Drucke, waren die größeren Schriftgrade doch sehr beliebt. Besonders meine Versalien brauch­en sich nicht vor bekannten Kollegen zu verstecken. Und seinen wir doch einmal ehr­lich, ich habe noch die passenden Minuskeln nebst Kursive dazu.

Wenn ich einen Vater habe, so muß ich auch eine Mutter haben? Nein, eine Schrift kann sich biologischen Gesetzmäßigkeiten entziehen. Gewiß, im weitesten Sinne gibt es schon so etwas wie eine Biologie der Schriftformen, nicht umsonst spricht man von Stammbäumen und Familien. Wir haben Väter, leider kaum Mütter, aber das bessert sich gerade. Wir werden geboren, wir leben und sterben genau wie ihr Menschen. Jedoch können wir wieder entdeckt werden und neu entstehen. Manche von uns befinden sich in der x-ten Reinkarnation, ähnlich einem »Doktor Who«, jedesmal an­ders, dem Zeitgeist angepaßt, die Eigenheiten des Gestalters und der Technologie annehmend und doch vertraut, der Tradition verpflichtet.

Wenn Sie so wollen, gibt einen weiteren Vater. Er heißt Andreas Seidel und er hauchte mir nach und nach mein Leben ein. Er hat mich digital neu gezeichnet, in drei optischen Größen. Natürlich hat er ganze Hand an mich gelegt, vom großen O bis ganz runter zum kleinen z.

Ich mag meinen Namen »Toshna«. Er ist kurz, prägnant auf den Punkt und jeder kann ihn einfach aussprechen. Andreas meint, er betone meine weibliche Seite. Das laß ich mir gern gefallen. So ganz genau kann ich Ihnen gar nicht sagen, wann ich geboren bin, das müssen Sie ihn fragen. Schließlich brauchte es ein erstes Alphabet bis ich mich das erste Mal, noch ohne Punkt und Komma, artikulieren konnte. Über zwei Jahre werden es wohl gewesen sein, vom ersten Buchstaben bis hin zum letzten Kerning­paar. Ja, ein bißchen stolz bin ich auf meine digitale Existenz und freue mich auf die Welt da draußen.

Meine digitale Daseinsform bietet doch beste Voraussetzungen für ein hoffentlich langes Leben, zumindest solange es Bedarf für Computer und Schrift gibt. Obgleich, ich muß gestehen, bin ich eher für den Druck auf Papier geschaffen. Dank eines guten Hintings mache ich am Bildschirm eine passable Figur trotz meiner vielen Rundungen. Die gerade Linie war und ist mir fremd, auch wenn die digitale Technik gerne dazu einlädt sämtliche Feinheiten zu glätten. Na und meine schlanken Display-Formen tragen auf jedem Medium gut auf.

Andreas hat meine Oberlängen ein wenig gestutzt, nicht bedauerlich, es war reichlich Oberlänge vorhanden. Unten herum, wenn ich das so sagen darf, stand es etwas »eng«, dort habe ich nun mehr Freiraum. Das Ganze kam auch meiner x-Höhe, also der relativen Höhe der kleinen Buchstaben (Minuskeln) zu den Großbuchstaben (Versalien), zu gute. Meine Serifen sind nun durchgehend kräftiger, besonders in der kleinen Größe, dem Werkdruckgrad (Book), und dies bei meiner eher leichten Figur. So, als würde ich mit übergroßen Plateauschuhen Ziegelsteine auf dem Kopf spazieren tragen. Bitte verwenden Sie den Werkdruckgrad nur bis 10 Punkt, gut bis 10,5 Punkt aber nicht mehr, sonst wirke ich zu rundlich und Sie wollen doch nicht die Augen Ihrer Leser beleidigen.

Dank OpenType, so heißt das Format, in dem ich als Font bzw. als Gruppe von Fonts existiere, ist mein Zeichenvorrat sehr üppig. Fast sämtliche lateinisch, europäischen Sprachen lassen sich mit mir setzen. Wenn ich so nachdenke, es sollten eigentlich alle Sprachen sein. Es kann sein, daß irgendein Hinterweltsdialekt ... – Verzeihung! Es kann sein, daß eine lokale Sprache nicht vollständig durch mich bedient werden kann. In diesem Fall wird mich Andreas gut pflegen und erweitern. Er meint, eine Schrift sei sowieso nie fertig. Er hat mir auch Kapitälchen spendiert, das sind kleine Groß­buch­staben. Der Clou, sie sind im Display-Schriftgrad wesentlich höher als im Werk­druck­grad. Schließlich soll ich beeindrucken können wenn ich die große Leinwand betrete. Im Werktext wäre dies nicht wünschenswert und so ordnen sich dort die Kapitälchen unter und lehnen sich an die x-Höhe der Minuskeln an. Zahlen kann ich in verschie­den­en Formaten anbieten. Mediäval- und Versalziffern sind heute bei den besseren Kollegen schon usus. Aber wie steht es mit Kapitälchenziffern? Ja, die hat nicht jeder oder jede. Da hört es aber noch nicht auf. Es gibt auch römische Ziffern die zusätzlich auch als Kapitälchen ausgeführt sind. Dynamische Brüche und wissenschaftliche Hoch- bzw. Tiefstellung bediene ich prompt. Andreas hat sogar die Minuskeln nebst einigen zusätzlichen Zeichen für die Hoch- Tiefstellung und für die dynamischen Brüche ein­gearbeitet. Ob das wirklich jemand braucht? Diesen Floh hat ihm sicherlich Adam Twardoch ins Ohr gesetzt. Adam ist ein Globetrotter des Typodesigns. Er hat, von Zeit zu Zeit, mich begutachtet, besonders wegen meiner Akzentzeichen. Er schätzt meine grundsoliden Formen im Werksatz. Der Mann muß es als Font-Experte wissen. Er kann ein Lied von viel zu dünnen, magersüchtigen Schrifttypen singen. Als Jugendlicher können Sie diese noch gut lesen, aber warten Sie erst einmal ab, bis Sie die Dreißig überschritten haben. Auch Sie werden irgendwann eine Lesebrille brauchen – bestimmt! Ja, und dann werden Sie sicher oft an diesen »Hungerhakenschriften« verzweifeln. Diese sind nicht schlecht per se, sie funktionieren einfach weniger gut, je kleiner sie gedruckt werden. Fast alle stammen noch aus der Zeit, in der man es schlicht für überflüssig hielt, Schrifttypen für bestimmte Druckgrößen neu zu zeichnen.

Andreas Stötzner ist eine weitere Person die ich erwähnen muß. Er ist auch Leipziger und Herausgeber der signographischen Zeitschrift Signa. Er hat mein versales Eszett kritisiert, Andreas Seidel hat es, seinen Hinweisen entsprechend, angepaßt. Es ist die so genannte »Dresdner« Form. Bisher kannte ich nur den Dresdner Christstollen, aber dies ist natürlich kein typographischer Begriff. Dresdner Form hört sich gut und griffig an. Obwohl, die Idee eines versalen Eszetts wohl ein Leipziger Ding ist. Die meisten Bleisatzschriften mit einem solchen Großbuchstaben gab es von Schelter & Giesecke, einer Leipziger Schriftgießerei. Dann wäre noch Ingo Preuß, ein guter Freund von Andreas, zu nennen. Er unterhält sich mit ihm oft über Gott und die Welt und natürlich auch über mich. Er hat Andreas oft bestärkt durchzuhalten, wenn er wieder einmal meiner überdrüssig war. Ich weiß, es war nicht persönlich gemeint, doch ab und an brauchte Andreas etwas Abstand von mir. Aber letztlich ist doch etwas aus mir ge­worden, oder?

Habe ich etwas vergessen zu erwähnen? Ich denke, Sie sind fürs erste informiert. Wie wär’s – wollen Sie mich auf einen Kaffee einladen?

 

    1950
    typische Buchgestaltung
    Linotype Setzmaschine & Linotypematrize
    kursive Minuskeln
    serifen formen 9, 12 und 24 pt
    Verlauf der Kapitälchenhöhe in den optischen Graden
    Versalziffern, Kapitälchenziffern & Minuskelziffern
    versales Eszett